Informationsgesellschaft: Folgen für die Buchkultur

Informationsgesellschaft: Folgen für die Buchkultur
Informationsgesellschaft: Folgen für die Buchkultur
 
Vor etwa 600 Jahren, zwischen 1397 und 1400, wurde Johannes Gensfleisch, der sich später Gutenberg nannte, in Mainz geboren. Sein Vervielfältigungsprinzip, sein Handgießinstrument, seine Druckerpresse haben eine tief greifende soziale Umwälzung auf einem ganzen Kontinent in Gang gesetzt.
 
Wie kaum eine andere Erfindung wurde die Druckkunst als ein Heilsbringer über die Jahrhunderte hinweg bewundert. Ihre Entstehung wird als Wasserscheide zwischen den Epochen gewertet; mit ihr geht das Mittelalter zu Ende und beginnt die Neuzeit. Martin Luther betrachtete sie als Geschenk, welches Gott gerade den Deutschen machte, um die Reformation durchzuführen. Überall in Europa äußerte man die Hoffnung, dass die »ars nova imprimendi libros« (zu deutsch: die neue Kunst des Buchdrucks) zur Volksaufklärung beitragen möge, die menschliche Erkenntnis heben und »magnum lumen«, große Erleuchtung, bringen werde. »Denn wer ist so träge, dass er nicht bei der Geschichtslektüre gelernt hätte, dass die Welt seit der Zerstörung des ersten Römischen Reiches, seit dem Barbareneinfall gleichsam von tiefer Lethargie befallen, ungefähr 1000 Jahre geschlafen hat und mit dem Jahr 1440 aber, erweckt, zur früheren Lebendigkeit zurückgekehrt ist«, formuliert Johannes Kepler die Grundüberzeugung seiner Zeitgenossen 150 Jahre nach Erfindung des Buchdrucks und führt weiter aus: »Nach der Geburt der Typographie wurden Bücher zum Gemeingut, von nun an warf sich überall in Europa alles auf das Studium der Literatur, nun wurden so viele Universitäten gegründet, entstanden plötzlich so viele Gelehrte, dass bald diejenigen, die die Barbarei beibehalten wollten, alles Ansehen verloren.« Seither wird der Buchdruck als Medium der Volksaufklärung, als Königsweg der Informationsverbreitung und unverzichtbares Hilfsmittel bei der Lösung fast aller sozialen Probleme gepriesen.
 
Wie sah nun die Technik aus, die so gelobt wurde und so wenig Widerrede erfahren hat?
 
 Leistungen des Typographeums
 
Concordia et proporcione, Schönheit durch das rechte Verhältnis zwischen den Dingen wollte Gutenberg zeitlebens erreichen. Ein Buch von bis dahin nie gesehener Harmonie wollte er schaffen, um damit göttliche Gnade und das Lob der Kirche zu gewinnen. Hierin war er ganz Kind seiner Zeit, des ausgehenden Mittelalters, und aus diesem Grund richtete sich sein Trachten auch auf die Heilige Schrift. Sollten die Buchstaben in jedem Wort, die Worte auf jeder Zeile und auf allen Seiten des Werkes gleichmäßig gestaltet und die Abstände zwischen ihnen einem durchgehenden Prinzip und nicht dem unterschiedlichen Geschmack der vielen Schreiber unterworfen sein, so wie das in den mittelalterlichen Skriptorien üblich war, so musste eine völlig neue Produktionsweise her: maschinelle Serienproduktion.
 
Keineswegs hatte Gutenberg eine tausendfache Vervielfältigung von Büchern für einen anonymen Markt im Sinn — ansonsten hätte er schwerlich den bis heute kaum wiederholten künstlerischen Aufwand betrieben, knapp 300 separate Lettern für seinen Bibeldruck zu gießen, wo er doch mit einem guten Zehntel auch ausgekommen wäre. Viel eher brachte seine Leidenschaft für Präzision und vollendete Formen diese gewaltige kulturelle Innovation in Gang — und ruinierten ihn wirtschaftlich. Nur bei der industriellen Massenproduktion rentiert sich seine Technologie.
 
Aufbauen konnte er, freilich in sehr begrenztem Umfang, auf den bereits früher eingeführten verschiedenen Stempeldruckverfahren, die alle nach ähnlichem Muster ablaufen: aufwendiges Schneiden oder Stechen einer Druckform für eine ganze Buchseite, Einfärben der Form, Abdruck dieser Form in Ton, auf Stoff, Pergament oder Papier. Die Leistung dieser Verfahren liegt in der Hauptsache in der Vervielfältigung. Die von Gutenberg beabsichtigte Standardisierung der einzelnen Zeichen ließ sich hingegen auf diesem Weg nicht erreichen. Jede Form, jeder Buchstabe, hing weiterhin von der Handfertigkeit des Formenschneiders ab und jeder Abdruck zeigte deshalb die gleichen Unregelmäßigkeiten wie handgeschriebene Texte. Um diesen Nachteil auszumerzen, musste der Druckvorgang mehrfach auf sich selbst angewendet werden: Zunächst entwirft ein begabter Schreibkünstler ein vollständiges Alphabet mit allen Zusatzzeichen. Dieser Entwurf, der praktischerweise auf Pergament oder Fettpapier ausgeführt wird, wird dann auf den Rohling einer Patrize gelegt und abgepaust. Ein Graveur hebt die Formen aus dem Metall heraus und es entsteht eine Patrize. Diese wird in weicheres Metall eingeschlagen, um so zu einer Gießform, der Matrize, zu gelangen. Erst in diese Gießform füllt man die heiße Bleilegierung, um beliebig viele identische Lettern für jeden Buchstaben zu erzeugen. Die Lettern nun fügt der Setzer zu Schriftzeilen und diese schließlich zu Seiten zusammen, färbt sie ein und druckt sie aus.
 
Die technische Grundidee Gutenbergs ist also die mehrfache Spiegelung informativer Muster, ein ziemlich umwegiges Verfahren. Der technische Erfolg dieses Spiegelungsprozesses hängt von der Minimierung der Rückkopplungseffekte ab: Durch die Auswahl geeigneter Übertragungsverfahren und Materialien muß die Rückwirkung des Werkstücks auf das Werkzeug so weit reduziert werden, dass sie nicht mehr ins Gewicht fällt: der Einfluss der Patrize auf das Graviermesser, der Matrize auf die Patrize, der Letter auf die Matrize, des gedruckten Papiers auf die Letter — und schließlich des Lesers auf das Papier.
 
Würde dieses Prinzip nur an einer Station unterbrochen, etwa die Patrize beim Einschlagen in die Matrize verformt, so stürzte die Vervielfältigungspyramide zusammen. Im ökonomischen Sinn lohnt sich dieses Prinzip nur dann, wenn aus einem Schriftmuster gleich mehrere Patrizen, aus einer Patrize viele Matrizen, aus einer Matrize wiederum viele Lettern und aus einer Letter wiederum viele Drucke hergestellt werden. Dies bedeutet, dass ein Schriftkünstler viele Stempelschneider, ein Stempelschneider zahlreiche Gießereien, eine Gießerei viele Druckereien und jede Druckerei eben viele Leser beliefern kann und muss. Gutenbergs Genie liegt also quasi in seiner Sturheit: Viermal wiederholt er einen im Prinzip gleichen Vorgang, um sein Ziel zu erreichen.
 
Mit der gleichen Sturheit vollzieht sich übrigens auch die gesamte Industrialisierung in Europa seit der frühen Neuzeit. Stets läuft das gleiche Schema ab: Es werden Formen (unter Nutzung anderer Formen) gefertigt und geeignete Pressen bereitgestellt, um massenhaft Produkte mit völlig gleichen Proportionen herzustellen. Anfangs eignete sich nur Metall für diese mehrfachen Umformungsprozesse und deshalb beginnt mit dem Buchdruck auch die Verdrängung des Holzes, des bis dahin wichtigsten Baustoffes für Maschinen.
 
Auf Dauer passte sich unser europäisches Denken, beileibe nicht nur jenes der Techniker, diesem Produktionsprozess an. Ziel sowohl des mechanischen Handelns als auch des linearen und kausalen Denkens muß die Verringerung oder, besser noch, die vollständige Ausblendung von Rückkopplungseffekten sein. Denken, das diesem mechanischen Prinzip entspricht, verläuft monokausal. Es vernachlässigt die Tatsache, dass natürlich auch das Werkstück auf die Form zurückwirkt — und diese überhaupt nur geschaffen werden kann, wenn die Eigenschaften des Werkstücks berücksichtigt werden.
 
Nicht nur unser Denken, sondern auch unser Verständnis von Kommunikation wird von den Funktionsprinzipien des Buchdrucks als dem Urtyp der mechanischen Industriekultur bestimmt: Der Mythos, man könne Wissen weitergeben wie gedruckte Bücher, hält sich noch immer. Rhetorisches Ideal ist nicht das wechselseitige Geben und Nehmen, sondern die einseitige Beeinflussung des Werkstücks Hörer durch das Werkzeug Sprecher.
 
 Die Technisierung sozialer Informationsverarbeitung
 
In diesem Sinne typisch monokausal ist auch die Vorstellung, die Produktionstechnologie und die technischen Erfindungen Gutenbergs: Handgießinstrument, verschiebungsfreie Druckerpresse und Setzkasten, seien allein schon das Unterpfand für den kulturellen Wandel. Es gab jedoch eine Reihe von weiteren Bedingungen und Neuerungen, die hinzutreten mussten, um den Siegeszug der neuen Technologie zu ermöglichen, nämlich neue Wahrnehmungs-, Darstellungs- und Kommunikationstheorien, neue Informationen, die sich für die Verbreitung im Druck eigneten, neue Verteilungsnetze und nicht zuletzt soziale Normierungsprozesse und Institutionen, die Informationen verschrifteten, Darstellungs- und Kommunikationsformen kodifizierten und über die Einhaltung der Normen wachten.
 
Um dies zu verstehen, sollte man sich die Erfindungen Gutenbergs als Teil eines gesellschaftlichen Informationskreislaufs vorstellen, in dem der Autor gleichzeitig einen Ausgangs- und einen Endpunkt der Kette bildet. Wie bei psychischen, technischen oder elektronischen Informationssystemen können wir auch bei der sozialen Informationsverarbeitung zwischen Sensoren, Speichern, verschiedenen Prozessoren und den dazwischen ablaufenden Transformationsprozessen unterscheiden. Mensch und Technik wirken Hand in Hand, um den Informationskreislauf in Gang zu halten, sie bilden soziotechnische Systeme. Man wird im Übrigen kein technisches Informationsmedium verstehen können, wenn man nicht seine Beziehungen zu den natürlichen Möglichkeiten unserer menschlichen Organe reflektiert. Alle technischen Kapazitäten müssen auf unsere psychopsychischen Möglichkeiten, zum Beispiel den Leistungsbereich und die Grenzen unserer Sinne, abgestimmt sein.
 
Die Autoren bilden die eine Schnittstelle des Systems mit seiner Umwelt. Sie wirken als Sensoren, als Sinnesorgane, indem sie Informationen aus der Umwelt aufnehmen. Um den neuen Medien im alltäglichen Leben zum Durchbruch zu verhelfen, war es erforderlich, ganz neue Formen von Informationen, die zuvor noch nicht handschriftlich oder mündlich tradiert wurden, für die Verbreitung im Druck zu gewinnen. Dazu mussten die Autoren alternative Formen der Wahrnehmung und Informationsdarstellung erproben. Im nächsten Schritt transformieren sie dann ihre Wahrnehmungen in handschriftliche Texte, in Verlagsmanuskripte. Schon hier zeigt sich, dass die typographische Kultur auf die älteren skriptographischen Techniken und Medien angewiesen ist und diese in ihren Aufbau integriert. In keiner älteren handschriftlichen Kultur wurde mehr mit der Hand geschrieben als in der Buchkultur der Neuzeit. Die Manuskriptform ist eine notwendige Bedingung für die weitere typographische Verarbeitung: Die Druckereien und Verlage können im Gegensatz zu den Skriptorien, in denen oftmals viele Schreiber nach Diktat arbeiteten, mit mündlich dargebotenen Informationen nichts anfangen.
 
In der Druckwerkstatt transformiert man die Informationen erneut: Seite für Seite setzt man den schriftlichen Text mit bleiernen Lettern, schließt ihn in Formen und bringt ihn dann gemeinsam mit den Papierbögen unter die Presse. Bei jedem Pressvorgang entstehen identische Exemplare. Diese Form von »Zellteilung« hat die Zeitgenossen nicht weniger fasziniert als uns heute die Experimente der Gentechnik. Überliefert ist etwa, dass kirchliche Würdenträger ausgedruckte liturgische Texte noch einmal von einem Lektoren vergleichen ließen, um ihre Identität zu überprüfen. Mehr Bewunderung als die Schrift an und für sich rief bei den einfachen Kulturen, auf die die Missionare im 16. und 17. Jahrhundert mit der Bibel in der Hand stießen, die Tatsache hervor, dass diese Texte alle völlig gleich waren. Dies konnte keinen natürlichen Ursprung haben!
 
Informationstheoretisch gesehen ermöglicht die neue Textvervielfältigungsmaschine die massenhafte Parallelverarbeitung von Informationen: Ein und derselbe Text kann aufgrund der Vervielfältigung von vielen Personen zugleich gelesen werden. Die Zeitgenossen haben dieses Phänomen als Beschleunigung des Informationsaustausches erlebt und ebenso sehr begrüßt wie die gestiegene Wahrscheinlichkeit, dass sich irgendeiner der vielen Texte durch alle Wirren der Zeiten hindurch schon erhalten werde, sodass sie auch noch von ferneren Nachkommen gelesen werden konnten.
 
 Neue Verteilungsnetze
 
Voraussetzung für die Steigerung der Parallelverarbeitung waren freilich neue Vernetzungsformen. Wenn man die ausgedruckten Bücher genauso verteilt hätte, wie dies mit den Handschriften im Mittelalter geschehen war, dann wären die kulturellen Folgen der Gutenberg-Erfindung, wie die Erfahrungen in Südostasien mit technisch freilich weit weniger ausgereiften Druckverfahren zeigen, weit bescheidener ausgefallen. Man bediente sich jedoch für die neuen Produkte in den europäischen Kernlanden einer völlig neuen Vernetzungsform, nämlich des freien Marktes. Schon Gutenberg betrieb seine Druckerei als ein kommerzielles Gewerbe. Die ausgedruckten Bücher wurden damit zu einer Ware wie jede andere auch. Für sie musste, je länger gedruckt wurde, desto mehr geworben werden. »Freundlicher lieber Leser«, heißt es beispielsweise in einer Ausgabe der »Wundarzenei« des Paracelsus, »wende das Blatt herum, so erfährst du, was dieses Büchlein beinhaltet. Es wird dich gewiss nicht gereuen, diesen großen Schatz mit so wenig Geld zu kaufen«.
 
Natürlich waren Bücher lange Zeit recht teuer. Verglichen jedoch mit den Mühen, der Zeit und den Kosten, die aufgewendet werden mussten, um sich das Wissen auf Reisen, in einer beruflichen Lehre oder auf der »Ochsentour« ritualisierter und institutionalisierter mündlicher Informationsweitergabe zu beschaffen, erschienen die Produkte des Buchdrucks den Zeitgenossen schon zu Beginn des 16. Jahrhunderts konkurrenzlos preiswert. Und sie waren zumindest im deutschsprachigen Raum frei und bequem zugänglich. Nicht in erster Linie Stand oder Profession, sondern das Geld sollte fürderhin der Mechanismus sein, nach dem Informationen verteilt werden. Wer Geld besaß, konnte drucken lassen und die Druckerzeugnisse kaufen. So wenden sich denn Bücher zunächst auch nicht an den »Leser«, sondern, wie es etwa auf dem Titelblatt der »Dialectica« des Ortolf Fuchsperger heißt, an den »Käufer«. Erst durch die freie marktwirtschaftliche Verbreitung erhielten die gedruckten Informationen ihren öffentlichen Charakter, der sie so deutlich von jenen Erfahrungen abgrenzt, die nur handschriftlich tradiert wurden.
 
Diese handschriftlichen Aufzeichnungen ihrerseits hatten zumeist gar keine kommunikative Funktion, sondern fungierten als Hilfsmittel für psychische Systeme, die individuelle Informationsverarbeitung also. Bis ins 16. Jahrhundert hinein blieb die Handschrift die Magd der Rede, sie war keineswegs ein selbstständiges Medium der Interaktion mit anderen, sie diente meist der Vorbereitung, Durchstrukturierung und Nachbereitung des mündlichen Vortrages. Im Gegensatz zu solchen Manuskripten ist das Gros der typographischen Gattungen für ein stilles Selbstlesen und Selbstlernen gedacht. Ihr Ziel ist es gerade, unmittelbare Interaktion — einen Experten aufsuchen, einem Vortrag lauschen, einer unterhaltsamen Aufführung beiwohnen — zu ersetzen. Die monomediale interaktionsfreie Kommunikation ist also eine erst von Gutenberg angestoßene, von ihm jedoch keinesfalls beabsichtigte Wirkung des Buchdrucks.
 
Eine gewisse Autonomie erlangten die handschriftlichen Medien bestenfalls auf klar vorgezeichneten Dienstwegen in den mittelalterlichen Institutionen: den städtischen und überregionalen Verwaltungen, den Orden und Glaubensgemeinschaften. Diese Netze hatten aber eine ganz andere Struktur als der Markt. Sie waren strikt hierarchisch organisiert. Sowohl von oben nach unten als auch von unten nach oben quälten sich die Informationen — Bullen, Petitionen, Kommentare und Ähnliches — durch den Instanzenweg. Die Schriften eines Mönches etwa mussten vom Abt gelesen und gebilligt werden, bis sie einen Ordensoberen erreichen konnten. Und erst wenn sie von jenem approbiert wurden, gelangten sie vielleicht in die Hände des Bischofs. Erst was den Segen der oberen Etagen in diesen Institutionen erhalten hatte, konnte dann durch die verschiedenen Verästelungen der Pyramide wieder nach unten verteilt werden. Je höher die Instanz, umso breiter die Basis, der der jeweilige Text bekannt werden konnte. Nur das, was die jeweilige Spitze in speziell dafür eingerichteten Situationen verkündete, galt für alle Mitglieder der betreffenden Gemeinschaft als »offenbar«. Dieses Prinzip gilt für die Politik ebenso wie für die schöne Literatur an den Höfen oder für die Evangelienharmonien der Mönche.
 
Wer hingegen die neuen marktwirtschaftlichen Netze nutzen wollte, war auf Approbationen — die Zustimmung zur Veröffentlichung — der Vorgesetzten ebenso wenig wie auf den Instanzenweg angewiesen. Im Prinzip lag es von nun an in der Hand der Autoren — und der Drucker — zu bestimmen, welche Informationen öffentlich werden sollten. Auch der Kreis derjenigen, der Zugang zu den Druckerzeugnissen bekam, ließ sich, nachdem einmal die Verbreitung auf dem Markt eingesetzt hatte, kaum mehr kontrollieren. Der Mönch Martin Luther etwa konnte mit dem Papst über seine Flugschriften in Kontakt treten, ohne dass er die langwierigen Wege der kirchlichen Hierarchie beschreiten musste. Der Papst andererseits wendete sich mit seinen gedruckten Mahnungen ebenfalls sehr viel unmittelbarer an die Prediger in seinem Reich, als dies zuvor mit den Mitteln des handschriftlichen Mediums möglich war. Es ist diese Abkürzung der Kommunikationsbahnen, die sowohl als Beschleunigung als auch als Vergesellschaftung von Informationen (»in die gemein geben«) verstanden wird.
 
Eine ähnliche Neubestimmung der kommunikativen Vernetzungswege und der Konzepte von öffentlicher und privater Information erleben wir im Augenblick mit dem Übergang zu den elektronischen Verbreitungsformen im Internet. Die Typographie hat heute ihren Platz unter den Top Ten der Wunscherfüller in den Industrienationen verloren. Wir sind Zeuge der Verschiebung der Projektionen weg vom Gedruckten und hin zu den elektronischen Medien und wir betreiben diesen Favoritensturz selbst aktiv mit. Der Blick zurück in die Mediengeschichte mag eine Ahnung von dem Ausmaß der zu erwartenden Umstellungen geben: Glaubwürdigkeit und Funktionsweise von etablierten Institutionen stehen ebenso auf dem Prüfstand wie die Vorstellung von Demokratie.
 
 Die Zwischenzeit der neuen Medien
 
Für die Mehrheit ist das gedruckte Buch heute nicht mehr das Totem der aufgeklärten europäischen Nationen. Es beginnt seine magische Kraft an die Bildschirme, Chips und Disketten zu verlieren. Selbst der zurückgezogene Bibliophile weiß oder ahnt zumindest, dass mittlerweile die elektronischen Medien die Umwelt und unser Miteinander mindestens ebenso prägen wie die typographischen. Sie sind zu einer neuen »Wunschmaschine« geworden. Bislang erweisen sich die neuen elektronischen Medien jedoch vor allem als konsequente technische Fortentwicklungen von Programmen und Modellen, die schon im Buchdruckzeitalter entstanden sind. Dies gilt zum Beispiel für die Umsetzung perspektivischen Sehens und entsprechender Bilder in Film, Fernsehen und Computeranimationen. Es gilt auch für die Rechenmaschinen, die logische Operationen mit denjenigen Symbolen ausführen, die wir aus der Buchkultur bestens kennen: Schrift- und Zahlzeichen. Und es gilt weiterhin für die elektronischen Versionen von Büchern und Katalogen, CD-Rom oder Ähnlichem. Als Näherungsregel kann gelten: Alle Software, die sich problemlos auch in typographische Produkte umsetzen lässt oder aus ihnen durch einfache Übersetzungsprozesse hervorging, gehört noch der typographischen Ära an, vollendet sie. Die Bedingung tief greifender kultureller Änderungen durch technische Medien ist aber gerade, dass sie an andere Sinne und psychische Instanzen des Menschen anknüpfen als die etablierten. Wirkliche Umwälzungen sind in der Gegenwart von daher von Programmen und Technologien zu erwarten, die nicht an den Augen, dem Verstand, das sprachlich-begriffliche, logische, lineare Denken anknüpfen, sondern direkt die Fantasie, das Gefühl, die unterschwellige Empfindung ansprechen. Die schiere Geschwindigkeit allein macht die neuen Medien schon zu einem Instrument für das Unbewusste und Affektive: Der Verstand ist viel zu langsam, um die Fülle der auf den Bildschirmen dargebotenen Informationen wahrnehmen und verarbeiten zu können. Videoclips wirken weniger über das Sehen als vielmehr über die »Vibrations«. Die optischen Informationen können mehr als Erschütterung gefühlt denn als sequenziell gegliederte Bilder wahrgenommen werden. Technomusik kann man schwerlich genießen, wenn man sie in traditionellem Sinne hört. Wer sie mag, geht mit, lässt sich und seinen Körper im Takt bewegen. Dies ist auch genau das, was Marshall McLuhan gemeint hat, als er von der Taktilität der neuen elektronischen Medien sprach.
 
Sofern die elektronischen Medien nonverbale und unbewusste Formen der Informationsverarbeitung verstärken, schlagen sie wirklich neue Wege ein und werden vielleicht gerade deshalb von den Kritikern, die noch einen festen Standpunkt in der Buchkultur haben, abgelehnt. Das, was beispielsweise Neil Postman an der Fernsehkultur kritisiert, dass sie so wenig diskursiv, so irrational ist, das eben macht ihre eigentliche Qualität aus. Sie entlastet das Bewusstsein, das in der Buchkultur sowieso überstrapaziert wurde.
 
Die neuen elektronischen Medien bieten also die Chance, die einseitige Orientierung auf bestimmte Formen der visuellen und akustischen Informationsgewinnung und -darstellung aufzubrechen. Zudem fördern sie sprachunabhängige Formen des Umgangs mit Informationen. Im Gegensatz zur landläufigen Meinung liegt ihre Stärke keineswegs in der Automatisierung von Rechenoperationen, die bislang mechanisch betrieben wurden, und der Textverarbeitung. Die Entwicklung der Robotik und der vielen elektronischen Sensoren zeigt beispielsweise, dass die Computertechnologie nicht notwendig am Sehen oder an standardsprachlichen Inputs anzuknüpfen braucht.
 
 Risiken der Buchkultur und Bedeutung des Gesprächs
 
Unsere Kultur, die in den vergangenen Jahrhunderten auf die Sprache und die visuell erfahrbare Wirklichkeit, den Verstand und die ebenfalls mit den Augen zu lesenden Bücher wie das Kaninchen auf die Schlange gestarrt hat, kann sich langsam wieder anderen Sinnen und Formen der Erfahrungsverarbeitung zuwenden. Sie wird dabei erkennen, dass die Medienvielfalt für unsere Kultur ebenso wichtig ist wie die Erhaltung der Vielfalt der natürlichen biogenen Arten. Und sie wird aus der historischen Betrachtung lernen, dass die Stärken der Technologie Buchdruck zugleich auch ihre Schwächen sind. Die Buchkultur hat die visuelle Erfahrung über die Umwelt entwickelt und damit andere Sinne, die Introspektion und Körpererfahrung vernachlässigt. Sie hat sprachliche und bildhafte Speicher und Darstellungsformen technisiert und dabei nonverbale Ausdrucksmedien aus dem Blick verloren. Sie hat die rationale, logische Informationsverarbeitung zu einem Ideal unserer Kultur gemacht und dazu affektive und zirkuläre kognitive Prozesse denunziert. Zahllose Informationen, die sich nicht in Sprache und das typographische Medium überführen ließen, haben die typographischen Kulturen im Übergang zur Neuzeit einfach vergessen. Zu den Risiken der Buchkultur gehört zweifellos auch ihre Bevorzugung von monomedialen Kommunikationsbahnen mit einseitigem Informationsfluss. Rückkopplungen sind, wenn überhaupt, nur mit großen zeitlichen Verzögerungen möglich.
 
Auch die Hauptleistung der Buchkultur, die Ermöglichung interaktionsfreier Parallelverarbeitung von Informationen im nationalen Maßstab, hat ihre Kehrseite: Der unmittelbaren Kommunikation von Angesicht zu Angesicht in Gruppen und Teams wurde nicht im Entferntesten so viel Gewicht beigemessen wie der Massenkommunikation über das Medium Buch. Lesen und Schreiben gehören zu den unumstrittenen Kulturtechniken, demgegenüber werden das Gespräch und die Gruppenarbeit in Schulen erst in den letzten Jahren halbwegs systematisch gefördert. Eine Technisierung dieser Form sozialer Informationsverarbeitung setzt erst augenblicklich mit den elektronischen Medien ein.
 
Wir sollten jetzt, wo andere Technologien in den Vordergrund drängen, zu einer nüchternen Betrachtung der positiven und negativen Auswirkungen der Buchkultur in der Lage sein. Erschwert wird dies gegenwärtig dadurch, dass wir bislang im Wesentlichen an einer Erkenntnis- und Kommunikationstheorie festhalten, deren Anfänge noch in der Renaissance liegen. Es ist nur zu natürlich, dass die traditionellen Wahrnehmungs- und Vernetzungsmodelle diejenigen Fragen beantworten können, die sich aus der typographischen Informations- und Kommunikationstechnologie ergeben. Sie sind für diese Technologie passend, aber auf andere Medien nur begrenzt anwendbar.
 
Je mehr sich unsere Gesellschaft mit den Anforderungen der neuen Medien und des nächsten Jahrtausends auseinander setzt, desto mehr wird sie sich des persönlichen Gesprächs zwischen mehreren Menschen als zentrale Kommunikationsform wieder erinnern müssen. Das Gespräch lässt noch immer bei weitem die vielfältigsten Formen von Informationsverarbeitung und -darstellung zu und es scheint auch bis auf absehbare Zeit die einzige Instanz zu sein, die die erforderliche Komplexität besitzt, um die unterschiedlichen Informationen, die für die menschliche Kultur wichtig sind und die sie in den verschiedenen Medien speichert, wieder zusammenzuführen. Seine Bedeutung als Integrationsinstanz ist sogar historisch in dem Maße gewachsen, in dem durch die Technisierung monomediale Informations- und Kommunikationssysteme entstanden sind.
 
Das unmittelbare Gespräch bietet ein Paradigma für simultane Parallelverarbeitung unterschiedlicher Typen von Informationen durch unterschiedliche Prozessoren. Es ist ungemein rückkopplungsintensiv und steuert sich selbst. Insofern scheint es nur folgerichtig, dass Vernetzungsmechanismen des Internet die Rückkopplungsprinzipien von Gruppengesprächen simulieren. Jedenfalls spricht die Tatsache, dass jede Entscheidung darüber, was informativ ist, letztlich von den menschlichen Sinnen und seinen vielfältigen Äußerungsmöglichkeiten abhängt, dafür, die einseitige Orientierung an dem Ideal technisierter typographischer Informationsproduktion und -verteilung aufzugeben und stattdessen das Gespräch von Angesicht zu Angesicht in der Theoriebildung wie auch in der täglichen Praxis der Informationsvermittlung stärker in den Vordergrund zu rücken.
 
Prof. Dr. Michael Giesecke

Universal-Lexikon. 2012.

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